Dazu das anschauliche Video von der WDR Sendung Quarks & Co:
Ohne Faszien geht nichts:
Was das Bindegewebe leistet
Faszien – Verkannte Fasern
Massage, Rolfing oder Yoga (QiGong und TaiJi – Anmerkung der Redaktion) wirken entspannend auf die Faszien, das weiße Bindegewebe. Lange galt es nur als Füllmaterial. Jetzt erkennen Forscher, wie eng es mit Rückenschmerzen und anderen Beschwerden verbunden ist
von Johanna Bayer
Vielseitiges Gewebe – Stützen, polstern, verbinden
Wie ein Taucheranzug, wie ein Netz, so beschreiben es Faszienforscher, umhüllt das Bindegewebe den Körper. Unter der Haut, rund um alle Muskeln und Organe, findet man unterschiedlichste Faszien. Dichtes, straffes Gewebe bildet Kapseln, Bänder sowie Sehnen und überträgt Kraft, lockeres füllt und polstert und lässt nebeneinander liegende Strukturen frei gleiten. Was bisher als faseriges Bindegewebe bezeichnet wurde, betrachten Forscher nun als Faszien, als Teil eines körperweiten Netzwerks.
Faszien der Organe
Rund um die inneren Organe befinden sich verschiedene Sorten von Faszien. Als dichte, glatte Kapseln umhüllen sie Nieren, Herz oder Hirn, halten die Organe in Form und schützen sie. Nieren, Gebärmutter und Darm hängen an großen Faszienbändern, die mit dem Bauchfell verbunden sind. Ein anderer Typ des Bindegewebes polstert die Organe ab, schickt Informationen über deren Tätigkeiten an das vegetative Nervensystem und sorgt für Flüssigkeitsaustausch.
Faszien an Schulter und Nacken
Zwischen den Schultern, über Nacken und Kopf, verläuft bis zu den Augenbrauen ein durchgehendes Faszienband. Weil es Verspannung weiterleitet, führt ein verkrampfter Nacken oft auch zu Kopfschmerzen.
Oberschenkelfaszie
Außen am Oberschenkel liegt eine breite, dicke Faszie, die Fascia lata. Sie hält die Oberschenkelmuskeln in Form und bestimmt damit die Silhouette des Beins. Je nach genetischer Veranlagung können in dieser Schicht Fettdepots und Wasseransammlungen entstehen, die zu äußerlich sichtbaren Dellen führen, der Cellulite.
Achillessehne
Sehnen bestehen aus besonders straffem Bindegewebe – zu den stärksten des Körpers gehört die Achillessehne. Sie ist nicht nur dick sondern auch elastisch. Daher kann Bewegungsenergie speichern und wieder freigeben Probleme entstehen durch Überlastung, falsches Training, O- oder X-Beine und durch das Altern.
Das Geflecht ist praktisch ein eigenständiges Sinnesorgan.
Muskeln – Vereinte Kräfte
Jeder Muskel besteht aus unzähligen Fasern, die in dichte Bündel gepackt sind. Jede Muskelfaser steckt in elastischem Fasziengewebe, dem Endomysium. Die Faserbündel werden vom Perimysium umhüllt. Doch auch der ganze Muskel ist von Fasziengewebe umgeben, dem Epimysium. Sehnen und Sehnenscheiden gehören ebenfalls zu diesem Netzwerk. Sie vermitteln die Kraft, die in den Muskeln entsteht, an den Knochen.
Reibungsloses Miteinander
Nach jeder Kontraktion sorgen die Faszien dafür, dass der Muskel wieder in seine alte Position zurückgleitet und sich entspannt. Doch nicht nur das, auch für das buchstäblich reibungslose Arbeiten sind sie zuständig: Die Faszien lassen die Faserbündel und ganze Muskeln und Muskelgruppen geschmeidig gleiten. Zudem sind sie wichtig für den Flüssigkeitsaustausch und übertragen Signale an angrenzende Muskeln und das Gehirn.
Muskelfaser – Hunderte von faserförmigen Strukturen bilden eine Muskelfaser
Endomysium – Diese hauchdünne Bindegewebsschicht ummantelt einzelne Muskelfasern
Perimysium – Jedes Faserbündel wird von Bindegewebe umhüllt
Faserbündel – Hunderte von Fasern bilden den Muskel
Epimysium – Die äußerste Faszienhülle hält den Muskel in Form
DASS BERÜHRUNG
heilen hilft, ist keine neue Erkenntnis – schließlich zählt Massage zu den ältesten Heilverfahren der Welt und ist in allen Kulturen verbreitet. Der Mensch scheint sogar besonders sensibel zu sein für Hautkontakt: „Wir haben ein eigenes Wahrnehmungssystem für die Berührung durch Artgenossen“, sagt Robert Schleip. Der Humanbiologe und Körpertherapeut aus München untersucht an der Universität Ulm Methoden, die buchstäblich unter die Haut gehen. Gerade im Fall von manueller Behandlung tut sich im Körper mehr, als man bisher ahnte: Massagen Wirken etwa auf das Nervensystem, auf Organe, Kreislauf und Gehirn – und das nicht nur über die Haut, sondern vor allem über tiefere Schichten: das Bindegewebe. Dieses Weiße Geflecht im Körper, von Experten auch Faszien genannt, schickt Signale ans vegetative Nervensystem und ins Gehirn, schüttet Botenstoffe aus und beeinflusst den Kreislauf. Jahrzehntelang kümmerten sich viele Mediziner Wenig darum und hielten das Gewebe für bloßes Füllmaterial, doch Faszien haben viele Funktionen, wie neue Forschungsergebnisse zeigen: Sie formen und stützen den Körper nicht nur, indem sie Organe und Muskeln umhüllen; Faszien sind auch mit vielen Nervenenden, Schmerz- und Bewegungssensoren versehen, zudem fließt Lymphflüssigkeit durch sie hindurch. Eine entscheidende Rolle spielt das Bindegewebe für die Muskeln, denn dadurch übertragen diese erst ihre Kraft; zudem sorgt es dafür, dass die Muskeln miteinander kooperieren und reibungslos funktionieren. Es kann sogar als Sinnesorgan gelten: Denn zahlreiche Sensoren in den Faszien geben dem Gehirn Informationen über die Lage des Körpers, über Bewegungen und Organfunktionen – sie ermöglichen also das Gespür für Körpervorgänge. „Das Bindegewebe hat eine ganz enge Verbindung zum Nervensystem, das konnte man sich früher nicht vorstellen“, sagt Ulrich Smolenski, Direktor des Instituts für Physiotherapie an der Universität Jena. Wichtig ist es nach Ansicht vieler Faszienforscher, die unterschiedlichen Formen des Bindegewebes als System zu betrachten, mit unterschiedlichen Erscheinungsformen: Gelenkkapseln, dicke Sehnen wie die Achillessehne, Bänder und Verbindungsplatten wie die große Rückenfaszie im Kreuz, aber auch das zarte, lockere Geflecht, das Leber, Magen, Darm und sogar Blutgefäße umgibt.
WIE BEDEUTSAM
der Zustand des Bindegewebes für das Wohlbefinden ist, wird erst seit wenigen Jahren richtig klar, auch durch die Arbeit von Robert Schleip und seinen Ulmer Kollegen. Die gesammelten Einblicke Werfen ein neues Licht auf erstaunlich viele Beschwerden, darunter alte Bekannte zum Beispiel chronische Rückenschmerzen, Schulterprobleme wie die sogenannte Frozen Shoulder, Verspannungen der Kiefermuskulatur und nächtliches Zähneknirschen, Hüft- und Knieprobleme, Entzündungen der Achillessehne, schmerzhafte Nervenentzündungen oder der höchst unangenehme Fersensporn. Schleip: „Alles typische Krankheiten, die häufig mit Störungen in den Faszien Zusammenhängen.“ Neuerdings erhellt die naturwissenschaftliche Faszienforschung auch komplementäre Verfahren wie Massage, Osteopathie, Akupunktur und sogar Yoga (oder“sogar“ QiGong oder „sogar“ TaiJi. Anmerkung). Denn sie alle lösen etwas in den Faszien aus, sagt Schleip – ob gezielt und wissentlich oder nicht. Schleip beschäftigt sich schon seit 1978 mit dem Bindegewebe, als er nach dem Psychologiestudium mit der alternativen Körpertherapie Rolfing begann, einer speziellen Massage, die auf das Bindegewebe zielt und sowohl körperliche Fehlhaltungen als auch seelische Blockaden auflösen soll. Entwickelt wurde die Technik seit den 40er Jahren von der Biochemikerin Ida Rolf in den USA. Sie maß bei Schmerzen, Fehlhaltungen und Verspannungen anstelle von Muskeln und Knochen dem Bindegewebe die Hauptrolle zu. Und ging davon aus, dass nach einer gelungenen Rolfing-Therapie nicht nur die falsche Haltung, sondern auch Ängste, mangelndes Selbstwertgefühl und Depressionen verschwinden. Weil seine Rolfing-Praxis in München schnell gut lief, verzichtete Schleip auf die Kassenzulassung als Psychotherapeut. Aber es blieben Fragen offen: „Den Patienten ging es nach der Behandlung häufig viel besser, gerade bei Rücken- oder Nackenschmerzen. Was mir jedoch nicht genügte, war die Theorie des Rolfings, die behauptete, man könne feste Kollagenfasern durch wenige Griffe bleibend verformen, wie einen Kaugummi“, sagt er. Schleip wollte es genauer Wissen und begann ein Forschungsprojekt in der Muskelphysiologie der Universität Ulm. Seine 2006 im Fach Humanbiologie eingereichte Doktorarbeit trug dem damals 51-Jährigen gleich einen Preis der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin ein: Er hatte in ein selbst gebautes Gerät Faszienstückchen eingespannt und diese mit verschiedenen Botenstoffen versetzt, darunter auch solche, die mit psychischem Stress assoziiert sind. Das Gewebe zog sich darauflıin zusammen, ganz ohne Muskeln – ein Hinweis dafür, dass Stress über Botenstoffe auf das Bindegewebe einwirken könnte und in diesem Zellen sitzen, die Kollagenfasern zusammenziehen können. Interessant schien das zum Beispiel für die Entstehung von Rückenschmerzen. Mittlerweile haben verschiedene Studien gezeigt, dass die Faszien der Lendenwirbelsäule von Kreuzschmerzpatienten auffallend verfestigt sind.
EIN NEUES MODELL
vom Rückenschmerz geht jetzt von kleinen Wunden oder Rissen im Bindegewebe aus, möglicherweise ausgelöst durch falsche Belastung. Solche Mikroverletzungen könnten zu Entzündungen führen und zu Fehlsignalen, die aus den gestörten Faszien an die Muskeln gehen. Daraus folgen Muskelstörungen und weitere Verkrampfungen – all das trägt dann zum chronischen Rückenschmerz bei. Weltweit diskutieren Forscher dieses Modell. Nicht nur aus akademischem Interesse. Chronischer Rückenschmerz gehört in den Industrienationen zu den häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit und verursacht hohe Kosten. Trotz teurer Diagnostik mittels Hightech-Geräten bleibt die große Mehrheit der Fälle – rund 85 Prozent – organisch ungeklärt: Keiner der üblichen Verdächtigen, ob Knochen, Muskeln, Bandscheiben oder Nerven, lässt sich dingfest machen. Die Faszien treten in diesem Zusammenspiel als neuer Akteur auf den Plan. Dominik Irnich von der Schmerzambulanz der Universität München beobachtet die Arbeit der Faszienforscher mit Interesse: „Diese Erkenntnisse sind interessant und Wichtig – damit lassen sich Vorgänge bei der Entstehung von Schmerzen am Bewegungssystem besser erklären. Nach wie vor ist der chronische Schmerz sehr komplex, vor allem spielen psychosoziale Faktoren eine entscheidende Rolle. Aber es ist wichtig, dass das Bindegewebe jetzt mehr in den Vordergrund rückt, denn seine Rolle wurde zu lange vernachlässigt.“ Robert Schlief praktiziert neben seiner wissenschaftlichen Arbeit weiter als Rolfer -jetzt auf dem neuen Fundament der internationalen Faszienforschung. Aus allen Ecken der Welt kommen neue Ergebnisse: Gewebe- und Tierstudien haben gezeigt, dass Faszien lebendiges Gewebe sind, Schmerz auslösen können und infolge von Bewegungsarmut verfilzen. Und sie sind beeinflussbar, etwa durch Massagen, die im Tierversuch sogar Operationsnarben reduzierten. Bindegewebe ist ausgesprochen empfänglich für Drücken, Ziehen, Kneten und allerlei mechanische Reize, betont Helene Langevin aus Vermont, die seit knapp zwei Jahren den Lehrstuhl für Integrative Medizin an der Harvard Medical School innehat.
DEHNEN VERÄNDERT DIE FASZIEN,
bestimmte Proteine vermehren sich, Zellen werden größer. So ist ausgerechnet Yoga ins Visier der Forscher gerückt: In vielen Yogapositionen werden große Faszien langsam und lange gedehnt. Gleichzeitig haben mehrere Studien wissenschaftlich belegt, dass Yoga Rückenschmerzen lindern kann. Bewiesen hat den Zusammenhang schließlich eine Forscherin der Universität Seattle. „Offensichtlich beruht ein Teil der positiven Wirkungen von Yogaübungen auf den Faszien: Sie werden gedehnt, und das wirkt sich auf das vegetative Nervensystem aus und sogar auf die Ausschüttung von Hormonen“, bestätigt Andreas Michalsen von der Berliner Charité, einer der führenden deutschen Forscher auf dem Gebiet der Naturheilverfahren. Doch nicht nur Yoga könnte jetzt einen neuen Hintergrund bekommen, sagt Michalsenz „Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass durch die Faszienforschung auch weitere Phänomene aus der Naturheilkunde, etwa die Akupunktur, aufgeklärt werden können.“ Spektakulär klingt in der Tat, was Faszienforscher im Hinblick auf Akupunktur vermuten: Möglicherweise lässt sich deren Wirkung zu einem guten Teil darüber erklären, was die Nadeln im Bindegewebe unter der Haut hervorrufen. Denn in der chinesischen Tradition zwirbelt und dreht der Therapeut die Nadeln – ein mechanischer Reiz, dessen Effekte sich mit speziellen Ultraschallgeräten beobachten lassen. Genau das tut Helene Langevin in den USA im Rahmen ihrer Forschung. Schon 2002 hatte sie am Beispiel des menschlichen Arms gezeigt, dass die Akupunkturpunkte zu über 80 Prozent dort liegen, wo breite Faszienbänder verlaufen, die mit Nervenenden versehen sind. Es könnte noch viel mehr herauskommen, vermutet der Physiotherapieforscher Ulrich Smolenski: „Die neuen Erkenntnisse können als Paradigmenwechsel betrachtet werden“, sagt er. „Und die Faszienforschung trägt zu einer neuen Vorstellung vom Körper bei, die von einem mechanischen Modell ganz weggeht. Lange Zeit kursierte ja das Bild von einem starren Knochengerüst, das ,eingerenkt“ werden kann. Dach das Wissen um die Bedeutung des Bindegewebes für das Bewegungssystem bringt eine ganz neue Perspektive vom Körper als einem dynamischen, flexiblen Konstrukt. Außerdem können mit der Grundlagenforschung über die Faszien viele Phänomene aus der Physiotherapie, die wir noch nicht erklären konnten erhellt und vielleicht ganz aufgeklärt werden.“ Davon könnten auch Osteopathen profitieren. Denn die neuen Erkenntnisse über die Faszien mit ihrer Verbindung zum vegetativen Nervensystem und ihrer Bedeutung für Muskeln und Organe passen hervorragend zum Lehrgebäude der Osteopathie. Daher ist Robert Schlief nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch bei Physiotherapeuten, Trainingswissenschaftlern, Osteopathen und Naturheilkundlern gefragt. Er hält Vorträge, reist zu Tagungen und berät Forschungsvorhaben. Im Oktober 2013 gehörte er zum wissenschaftlichen Prüfungskomitee eines internationalen Rückenschmerz-Kongresses: „Das hätte ich mir nie träumen lassen. Wenn ich früher als Rolfer mit medizinischen Professoren über Faszien reden wollte, wurde ich regelmäßig abgewiesen. Ich musste an unzähligen Türen geduldig kratzen, damit sich jemand mit mir und diesem abwegigen Thema abgab. Heute ist das anders – heute rufen die bei mir an.“